Freitag, 21. März 2014
SIDE: Sandbilder.

Ich bin nicht zum ersten Mal hier, nur: diesmal hab ich mein Skizzenbuch dabei. Und der merkwürdige Unterschied zum letzten Mal ist, dass sich um den Apollo-Tempel herum ein eingezäunter Menschenauflauf befindet. „Irgend ein Minister ist gerade da“ spricht der Kellner der Bar direkt über den Felsen.
Ich komme immer wieder gerne hierher, zum Kaffee trinken direkt über dem Meer, und zum Herumstreunen zwischen aberwitzigen Pflanzen, Dünen und Ruinenfragmenten. Für mich ist Side der schönste Ort der Welt. Weil es nach Orangen riecht und Salz, nach Kräutern und Wind, nach Stein und Holz.

Vorher waren wir noch im Museum. Beim ersten Besuch war es schon zu spät, beim Zweiten ein Montag (da hat es geschlossen), und jetzt, beim Dritten, brauchten wir als Erstes ein Klo. Menschen, die ihr Leben in Städten verbringen, vergessen schnell, dass ein anständiges Klo die einzig wahre wichtige Erfindung der Zivilisation ist. Ich könnte ein Buch füllen mit abenteuerlichen Geschichten über Toiletten in ganz Europa. Aber jetzt bin ich Türkei, und habe erstmal Museum.
Das Museum in Side ist klein, eher winzig, und der meiste Krempel „open Air“ deponiert. Drinnen, in den ehemaligen Thermen, sind Fundstücke wie gehabt eher nach Materialien denn nach Epochen in Vitrinen zusammengeworfen. Wieder begegnet mir viel Information zum grossen und ersten Archäologen, der von Atatürk in den 30ern höchstpersönlich als Erster nach Deutschland zum Studium geschickt wurde.
Und heimlich danke ich meinem Schöpfer, bei allen vorhandenen Skeletten und Artefakten nicht ein einziges Mal von stechender, kribbelnder „Strahlung“ beschossen zu werden. Das wird sich freilich ändern, später, im alten Hospital, später in einem „Wohnhaus“ in dem ich Zeuge einer unsichtbaren Messerstecherei werde, und eine Ecke weiter eine durchaus reale Drogenspritze finde.

Der Minister – oder wer auch immer da gerade einen kulturell relevanten Vortrag hält, hält ihn nicht zu Unrecht. Nicht, weil gerade offenbar sowas wie Wahlkampf ist, überall begegnen einem laut trötende Partei-Busse jeglicher Couleur. Nein, der Apollo-Tempel, so wie ich ihn kennengelernt habe, ist ein Anderer. Der gesamte Platz um den Tempelrest wird – soweit das überhaupt geht – rekonstruiert und wieder aufgebaut, aber nicht, wie man das normalerweise in Europa macht.
Archäologie bedeutet immer auch Zerstörung. Das liegt an den verschiedenen Bauabschnitten und Zeitepochen, denn trägt man die oberste Schicht ab um an das zu gelangen was darunter liegt, ist diese oberste Schicht zerstört für immer.
Auf einer Art Bautafel wird dokumentiert, was hier passiert: die Vermauerungen der letzten 1-400 Jahre wird entfernt, die Ruinen aus den Bestandsbrocken rekonstruiert und mit neuen Steinen soweit repariert, dass Türen wieder Türen sind, Kuppeln wieder Kuppeln und Fenster wieder Fenster, Treppen wieder Treppen. Was ergänzt wurde oder ergänzt werden musste ist mit roten Linien gekennzeichnet. Was droht umzufallen wie die beiden Wände der Basilika, wird mit Stahl stabilisiert.
Überall Handwerker beim Steinmetzen, und was bereits fertig saniert ist, macht mich fertig. Ich habe eine solche genial-konzeptionelle Leistung der Vermeidung von „Disney-World“ so noch nie gesehen. Man bekommt ein deutliches Bild von allem, aber ohne dass das Zerstörte verschwunden ist. Ehrlich gesagt: ich möchte heulen vor Freude dieser Verbeugung vor der Vergangenheit gegenüber, die so viel weitergibt an die Zukunft. Gerade weil so „wenig“ getan wurde.
Aber manchmal ist weniger einfach mehr.

Alles vermeintlich Grosse und Ewige und Geniale ist vergänglich. Alles holt sich die Welt zurück, was der winzige, sich so wichtig nehmende Mensch hinterlässt. Und hier ist merkwürdigerweise der Ort, an dem man das deutlicher spüren kann als sonstwo. Vielleicht auch, weil eifrige Christen „Halleluja“ an Mauern schmieren in denen Muslime leben, wie rücksichtsvoll. Weil es diesmal Hunde sind, die in den Ruinen leben, die uns führen und uns zu einer atemberaubenden Ausgrabungsstelle lotsen. Die alte Stadt liegt gut zwei Meter unter Sand. Und dazwischen blühen seltene Orchideen und andere Pflanzen.
Alles ist vergänglich, was Menschen betrifft, und ich bin glücklich hier, weil es den Moment des Jetzt so wertvoll macht. Wie eines der Sandbilder der Navajo, gemalt nicht für die Ewigkeit sondern für den Ritus des Windes und der Geister.

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by ratte (28.03.18, 06:25)
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by sakana (22.03.18, 17:05)
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mit meinem frisch und ungewaschenen Hals, und wundere mich über...
by ratte (22.03.18, 07:28)
denken ist nicht degoutant lies
das wintermärchen doch einfach mal da wirst du vieles von...
by wilhelm peter (10.01.15, 22:30)
den heine zu bringen,
bei diesem text. da muss ich mich räuspern. entschuldigung.
by don papp (10.01.15, 21:18)

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