Freitag, 21. März 2014
SELGE: hartes Leben.

Ok, zweiter Versuch Selge zu finden. Beim ersten Mal hatten wir im Gewitter die falsche Abfahrt, und fanden im Unwetter nur noch eine Sackgasse mitten im Niemandsland. Nicht vergessend des Restaurants „Flamingo“, eigentlich eine Rafting-Station, in der man uns für aberwitziges Geld eine übersichtliche, aber vor Öl triefende Mahlzeit aufgetischt hatte. Interessanter die alten Gartengeräte an der Wand, von denen eines aussah als wäre es mindestens 100 Jahre alt – und exakt so aussah wie ein Bronzeartefakt aus Halle, dessen Sinn bis heute nicht bekannt ist. Hier ist es offenbar eine Art Grabstock, eine spitze, hölzerne Hacke für sehr kleine Gewächse, ich vermute Kräuter oder Salat.

Der Weg nach Selge, einer laut Touristenführer zerfallenen römischen Stadt mit Amphitheater und Konsorten, ist allein schon ein Abenteuer, und erinnert eher an die Serpentinen, die sich zu schweizer Bergdörfern schlängeln. Einspurig, hart am senkrechten Fels, kein wirklicher Fahrbahnbelag. Hin und wieder begegnen einem Offroad-Kolonnen von Touristen, wie ich sie im Sommer schon gesehen habe. Irgendwo am Weg steht eine ältere Frau, winkt gut gelaunt, fragt, ob wir nach Selge fahren, und steigt einfach ein. Nicht die erste irgendwie gut gelaunte Frau, die wir hier sehen, und die alle irgendwie mitten im senkrecht bewaldeten Gebirge herumklettern.

Ganz oben dann, beinahe außerhalb der Baumgrenze, tauchen plötzlich steinumrandete, ovale Felder auf, in die flachen Täler geschmiegt, und Häuser... und eine Dolmusch-Station. Das also ist Selge, und kein Touristenführer erwähnt: Dort leben nach wie vor Menschen. Mitten IN den Ruinen. Auf eine Art, die mich an die Inka-Dörfer Perus erinnern.
Eine fröhlich-aufgeweckte junge Frau springt neben das Auto, zeigt uns einen Platz zum Parken. Im Weiteren erzählt sie in fließendem Deutsch: der Bürgermeister lässt gerade einen Parkplatz bauen, wie sie heißt, dass sie drei Kinder hat, dass in Selge einst 20.000 Menschen leben, dass es heute nur noch 107 Häuser gibt und weniger Menschen, dass das Leben hier oben sehr hart ist und man eine Grundschule hat und eine Moschee ohne Turm, dass dreimal am Tag der Dolmusch fährt und die älteren Kinder zur Schule ins Tal befördert und – hier des Rätsels Lösung – alle Männer an der Küste arbeiten, meist für Hotels, Touristen und die Gastronomie. So kommt es, dass man hier nur Frauen sieht, ganz im Gegensatz zum Tal, in dem man das Gefühl hat, dass es dort keine Frauen gibt, weil man nur Männern begegnet. Und: „es geziehmt sich nicht für Frauen, woanders zu arbeiten als zu Hause“.
Selge selbst mit seinen durch Erdbeben und Anderes zertrümmerten Römerstadt wenig interessant für mich, was mich zieht und zerrt ist die Tatsache, dass man die Ruinen quasi nur durch die Vorgärten der letzten Bewohner betreten kann, und dass man Tourismus vor allem am Müll erkennt, der zwischen den Brocken der Ruinen zu finden ist. Sandalen sind dabei und kaputte Autoradios. Das Dorf selbst ist sauber, Marmorsäulen zieren die Kuh- und Ziegenweiden, eine alte Frau führt uns durch das ruinierte Amphitheater, und klettert dabei in einer Geschwindigkeit von Brocken zu Brocken, dass man am Alter zweifelt. Sie muss herzlich lachen, wenn sie uns beim ungelenken klettern beobachtet.
Nachdem der Regen irgendwann dafür sorgt dass wir nass sind bis auf die Knochen, und weil wir dummerweise eine längere Pause wegen Zeichnens einlegen mussten, wollen wir irgendwann nur noch zum Auto und raus aus der scharfen Windeskälte.
Auf dem Weg Richtung Flusstal begegnen wir unserer jungen Führerin noch einmal, die gerade dabei ist in den Wald unter der Straße abzusteigen, Winken, Lachen, ein älterer lachender Frauenkopf taucht von unten aus dem Gestrüpp auf. Weiter unten begegnen wir auch der alten Frau wieder, die sich ein Stück hat mitnehmen lassen: sie hat ihre Freundin mitsamt der Ziegenherde gefunden, und winkt ebenfalls.

Was mich hier zieht, ist die Lebensfreude dieser Frauen, ihr offenes Lachen, denn so habe ich das noch nie erlebt. Dieses Dorf ist ein Frauendorf, und wie unsere junge Führerin zu Beginn andeutete: sie rennen den ganzen Tag hin und her, entweder hinter den kleineren Kindern oder den Ziegen hinterher, erledigen, pflanzen Weizen für Brot, und wenn sie nichts zu tun haben basteln sie Touristenzeugs und lernen Sprachen. Wenn sie nicht gerade irgendwo in den Bergen herumsteigen und Ziegen suchen. Denn es gibt ja keine Männer, um die man sich kümmern müsste.

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by ratte (22.03.18, 07:28)
denken ist nicht degoutant lies
das wintermärchen doch einfach mal da wirst du vieles von...
by wilhelm peter (10.01.15, 22:30)
den heine zu bringen,
bei diesem text. da muss ich mich räuspern. entschuldigung.
by don papp (10.01.15, 21:18)

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