Sonntag, 8. September 2013
Missing Point of No Return.

Ich lese Comics seit 40 Jahren, zeichne sie seit bald 30 Jahren, und gucke mir Filme an, die aus Comics entstanden sind: Batman, Spiderman, Iron-Man, 300, Watchmen, Sin City, John Carter, Persepolis, Asterix und Obelix... und nun ganz frisch: R.I.P.D.
Nicht jeder Comic, der mir bislang unter die Finger gekommen ist, zieht mir die Schuhe aus, ganz im Gegenteil, viele sind mir schlicht zu zäh. Aber es mag ja nicht jeder wie ich die Psycho-Schlachten von Comes oder Hulet oder den Mythologie-Krempel von Bilal. Und vielleicht sollte ich mich in Grund und Boden schämen für meine Empfindung über die so gut verkauften Watchmen, denn das Ding fand ich schlicht beinahe genauso unerträglich wie den Film. Allerdings fand ich auch John Carter furchtbar. Und jetzt: R.I.P.D. Schreibt ein altes Mädel, dass nicht ansatzweise ein Opus wie die oben genannten Kandidaten auf die Reihe kriegen würde. Bislang dachte ich "naja, is halt nicht dein Geschmack", oder "hm, zu dem Scheiss fehlt dir jetzt wohl der Zugang". Ich hielt meine Empfindung für anmaßend irgendwie und respektlos. Seit ein paar Tagen bin ich klüger: es liegt nicht an mir.

Was ich in meiner biografischen Auflistung vergessen habe: ich schreibe seit 27 Drehbücher die keiner liest, und zu meinem bislang einzigen "Album" kam ich vor allem, weil ich zwei Drehbücher hatte, die für eine Diplomarbeit unmöglich zu produzieren waren. Ich dachte "Drehen kannste das Ding nicht -- aber ZEICHNEN kannstes". Im Prinzip bin ich ein vergurkter Filmemacher, wie viele andere Zeichner auch (was schon mal an sich ja witzig ist: die meisten Menschen glauben, dass der Comic mit der Illustration verwandt ist, die Wissenschaft ordnet ihn der Literatur zu, die Arbeit selbst ist aber der Malerei verwandt, während die Kunstverbände den Comic nicht als Kunst anerkennen, und in Wirklichkeit ist Comic eher mit dem Film verwandt, weswegen es nicht wundert, dass viele Filmemacher desaströs Comic-affin sind und der Entwicklungsprozess selbst eher einem inneren Film gleicht, in dem man drinsteht und dann in seine eigene "Bildsprache" (nein, eine Sprache isses nicht, aber mit diesem Wort versteht man es besser) umsetzt.
Gute Film-Menschen denken da vielleicht gar nicht dran, sondern machen es instinktiv richtig, wenn sie Spannung aufbauen wollen, genauso wie gute Schriftsteller oder Musiker -- aber es gibt eine gewisse Dramaturgie, an dich sich ein Geschichtenerzähler einfach besser hält, wenn die Story nicht zum Gähnen daherkommen will. Ich selber kannte die Methode, aber das Wort dafür war mir neu, und seit ich dieses Wort kenne, kann ich den Finger in die Wunde der vergurkten Dramaturgie legen: den Turning-Point.

Der Turning-Point (Wendepunkt) ist eine Ansammlung von erzählerischen Momenten, in dem die Stimmung kippt und sich dreht: das Lachen bleibt einem im Halse stecken, man steht unter Schock, irgend ein bislang nur mässig interessantes Ding entpuppt sich als Horrortrip.
Frei nach Aristoteles Dramaturgischer Analyse: Teil A ist als Einleitung und Orientierung gedacht, Teil B spielt sich die ganze Äktschn ab, Teil C bedeutet: Schlusspointe. Zwischen A und B sowie zwischen B und C gehört sich so ein Turning-Point, damit der fromme Leser nicht vor der Zeit einschläft. Gute Erzähler bauen mehrere dieser Dinger ein, weil sie wissen wie.
Blos: viele Comiczeichner scheinen nix von dieser Dramaturgie zu wissen.
Da wird wild durcheinander Teil B vor Teil A gestellt und geprügelt bis die Schwarte kracht, noch bevor man überhaupt ansatzweise weiß, welchen Tag man hat, wer die Figuren sind, um was es geht. Zwischen B (dem neuen A) und A (dem alten B) passiert eigentlich nix, kein Aha, kein Ups, kein Turning-Point eben. Und am Ende dasselbe in Grün: C ist irgendwie B (das eigentliche A), und dazwischen kommt auch eher nur son büschn "wars das jetzt oder wie?" -- während der Abschluss Splash dann die grosse Moralkeule abfeuert, die so sichtbar wie offensichtlich unüberraschend daherkommt, dass man gar nicht merkt, dass der Film ausgelesen und zugeklappt ist.
Ich empfand es exakt so bei den Watchmen. Und exakt so bei R.I.P.D.
Abspann und immer noch die penertrant lauernde Frage im Hinterkopf "wann geht denn der Film eigentlich los?".

Der Turning-Point ist -- und hier mag die klugscheissende sich selbst quälende Autorin aus mir sprechen -- ist eine echte Kunst. Dafür muss man planen, den schüttelt man nicht mal eben aus dem Ärmel wie einen Cliffhanger oder die Steigerung von Schlimm zu Schlimmer zu Ogottogott!!! (was auch nicht wirklich aus dem Ärmel kommt, aber da genügt eine Ahnung von Katastrophensteigerung, die man durchaus im richtigen Leben auch schon mal erleben kann). Ich persönlich hab die blöde Angewohnheit Teil B ungefähr im Kopf zu haben, und erst dann Teil A und C überhaupt zu konzipieren, weil ich nur so den krassen "Absatz" hinkriege (da gibt es bestimmt ein Fachwort für, das ich nicht kenne): wie muss was vorher sein, dass es den Protagonisten dann aus der Bahn schmeißt? Und was erwartet kein Mensch am Schluss? Und trotz viel Herumgegrübel mit beiden Beinen im Sumpf einer Geschichte ist das nie wirklich einfach, meistens verhau ich´s dann doch erstmal, und die Testleser müssens ausbaden.

So ein Scheiss aber auch. Da muss man, um einen guten Comic hinzukriegen nicht nur einen gescheiten Plot, eine Sammlung guter Charakterdarsteller, und grenzgeniale Fähigkeiten in den Fingern haben, sondern auch noch all die dramaturgischen Kniffe guter Autoren kennen. Aber nach 30 Jahren hat man gelernt, so Einiges wegzustecken, das ist doch immerhin ein Hauch von Trost.
Um dann in welche Schublade nochmal gesteckt zu werden?

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