Dienstag, 22. März 2011
Niemand vergibt uns, denn wir wissen nicht, wer es liest

Man wirft unserer technischen Zivilisation gern Geschichtsvergessenheit vor: wir malmen alles nieder, was den technischen Standards unserer Maschinenwelten nicht entspricht, haben uns angewöhnt, die Welt mit Rechenschieber und Zollstock anzusprechen, geben uns dem Irrsinn hin, was aus den Augen sei, wäre auch schon aus der Welt.
Unsere Datenverarbeitungstechnik erlaubt uns, Mengen an Informationen zu sammeln, aufzuheben und abrufbar zu sortieren, in einem Maße, dass es den Bürokraten im alten Assyrien eine wahre Wonne gewesen wäre. Nur ist diese Technik mit einer unverschämt kurzen Halbwertzeit geschlagen. Wir haben dies beim - inzwischen längst vergessenen (sehen Sie, das meine ich) - Jahr 2000-Disaster gesehen. Riesige Computeranlagen drohten aus dem Ruder zu laufen, weil deren Kalendersteuerung nur mit den letzten beiden Stellen unserer Jahreszählung arbeitet: eine Zählung, die sich buchstäblich in jedem Jahrhundert wiederholt. Dank Handarbeit vielerorts ist der Super-GAU ausgeblieben, die Kernschmelze unserer Zivilisation aufgrund fundamentalen Zeitverlustes unserer Steuerungsautomaten. Aber es geht auch harmloser: Datensätze im Alter von vielleicht zehn Jahren machen bereits Probleme, weil die Maschine, mit der sie erstellt wurden, kaputt ist, und die stattdessen angeschaffte Maschine sie nicht mehr lesen kann. Unsere modernen, so grausam leistungsähigen Speichermedien halten kaum 40 Jahre; solange haben die Israeliten gebraucht, um von Ägypten ins Gelobte Land zu kommen, und dann ging es dort erst richtig los! In vierzig Jahren aber setzt bei uns dann das Große Vergessen ein. Wir haben das schon durchgespielt: In Detroit steht ein wunderbares Gefährt, gebaut gegen Ende der Fünfzigerjahre: man steuert es mit einem Joy-Stick: Lenken, Bremsen und Beschleunigen werden mit Hilfe eines Steuerknüppels in der Mittelkonsole ausgelöst, vollkommen elektromechanisch. Sein Motor, eine Gesturbine, hat eine sagenhafte Leistung, seine Hülle lässt Naomi Campbell (kennen Sie die Dame noch?) schlichtweg erblassen. Der Wagen ist funktionstüchtig, soviel ich weiß, ist er sogar fahrbereit. Aber man kann ihn nicht fahren, niemand kann ihn fahren: denn niemand weiß mehr, wie er funktioniert, und bei Beschleunigungswerten in der Gegend eines Ferrari traut sich das auch niemand, denn das Ding ist wertvoll, unendlich wertvoll: eine Ikone detroitischer Ingenieurskunst. Es könnte kaputtgehen, und dann wäre es weg.
Man hätte also eine Gebrauchsanweisung schreiben sollen und Konstruktionszeichnungen herstellen, vielleicht auch sie in Marmor meißeln sollen, oder auf Tontäfelchen. Das haben die Assyrer gemacht, und als ihre Archive abbrannten, wurden die Tontäfelchen ebenfalls gebrannt und so fertig für die Ewigkeit. So wissen wir heute relativ genau über die Höflichkeitsformen der assyrischen Bürokratie bescheid und darüber, was solch ein Haushalt im Jahr verbrauchte. Und: wir wissen zum Beispiel, dass das Volk Israel nie ins Gelobte Land eingewandert ist, ... denn es ist dort niemals ausgewandert!!! Das waren die Ureinwohner, nur der Verein um Moses kam von fremd weit her und brachte eine neue Religion.
Allerdings war das mit dem Lesen dieser Tontäfelchen so eine Sache. Denn hätte nicht ein findiger Engländer im diplomatischen Dienst Seiner Majestät, der König(-in) von England, eine Wandinschrift (Bisutun-Inschrift) irgendwo im wüsten Iran minutiös abgeschrieben, entziffert und übersetzt, wüsste bis heute kein Mensch etwas mit jenen rhytmischen Arrangements von rechtsgerichteten Pfeilchen anzufangen.
Mit der Schrift kann man also recht weit in die Vergangenheit schauen.
Man kann damit auch in die Zukunft weisen, man kann damit gleichsam jemandem in weiter Zukunft die Hand reichen. Denn so ein Text sagt (unter anderem): "Irgendwann einmal vor langer Zeit ist etwas gewesen, von dem Du, der dies jetzt liest, wissen kannst. Und es hat jemanden gegeben, der dies niedergeschrieben hat."
- wenn man es denn lesen kann!
Aber wer kann das schon?
Schrift ist eine Erfindung von vielleicht 4.000 Jahren Alter. Alles, was vorher geschehen ist, bleibt uns lesenden Menschen vollkommen uneinholbar. Ist weg, verschwunden, eingesunken in den Treibsand der Geschichte. Das macht kaum etwas aus, weil die meisten Dinge aus jener Zeit vorher mehr oder weniger ungefährlich gewesen sind - sofern sie einem nicht gerade auf den Kopf oder Fuß fallen oder sich in Gestalt von Schimmelsporen (Das Grab von Tut-Anch-Amun) anderweitig auf die Gesundheit legen.
Nun sind die Erbschaften unserer Zivilisation von bei weitem brenzlicherer Natur. Und sie sind haltbarer! Und damit beginnen Probleme für unsere technische Zivilisation, für die uns bislang noch keine technische Lösung eingefallen ist, die in irgendeiner Weise der Maxime vom "Aus dem Auge, aus der Welt!" entspräche. In Russland rosten die Atommeiler einer U-Boot-Flotte vor sich hin, die niemand mehr braucht, in Three-Miles-Island kühlt ein Atommeiler sehr, sehr, sehr langsam ab und strahlt vor sich hin, in Tschernobyl tut dies ein weiterer, und demnächst werden es in Fukushima/Japan einige nicht genau gezählte ebenfalls tun. Dieses Sehr, Sehr, Sehr ... Langsam übersteigt in seiner Tatsächlichkeit bei weitem die Leistungsfähigkeit technologischen Vergessens: selbst wenn man diese Dinger einfach vergräbt oder versenkt oder unter eine andere Oberfläche schafft, die ähnliches leistet wie der sprichwörtliche Teppich, so werden Leute unweigerlich krank, wenn sie auf jenem Teppich laufen, Lebensmittel ungenießbar, die dort wachsen oder drüberlaufen - weil die Menschen, die sie essen, davon ebenfalls krank werden, gleich so, als ob sie selber drüberlaufen würden. Sie werden nicht nur ein bisschen krank, sondern meist todsterbens- und unheilbar krank.
Und jetzt kommt die Keilschrift wieder ins Spiel: es läge in unserer Verantwortung, den Menschen der Zukunft die Hand der Schrift zu reichen und ihnen mitzuteilen, was dort ist und was ihnen geschieht, wenn sie sich dort aufhalten.
Aber wir können es nicht, vielmehr, wir werden es nicht können!!!
Die Schrift ist eine 4.000 Jahre alte Kulturtechnik der Kommunikation. Der Reaktor von Tschernobyl wird aber 20.000 Jahre strahlen, d.h. Menschen werden 20.000 Jahre lang todsterbens- und unheilbar krank werden, wenn sie den Teppich betreten. Man wird also 5x solange den Menschen sagen müssen, was dort ist, 5x solange als es die Schrift gibt.
Nun legen Sie einem Studenten - einem gebildeten Menschen also - eine Originalausgabe von Karl Marx' ersten Veröffentlichungen hin. Er kann die damals, vor 150 Jahren also, übliche Druckschrift nicht mehr lesen! Da bilde sich doch bitte niemand ein, wir könnten ein Kommunikationsmedium erfinden, das 20.000 Jahre lang funktioniert! Dass an den oben genannten Orten etwas sehr, sehr, sehr Wichtiges - etwas Überlebenswichtiges sogar - sich befindet, werden wir keine zwanzigtausend Jahre lang kommunizieren können.
... das müssen wir aber, denn was dort liegt, darf niemand vergessen !!!

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besteht aus einer Ansammlung von Verlusten, mit denen man...
by ratte (28.03.18, 06:25)
Das ist ganz schön
deprimierend.
by sakana (22.03.18, 17:05)
Interessant. Nun sitz ich da
mit meinem frisch und ungewaschenen Hals, und wundere mich über...
by ratte (22.03.18, 07:28)
denken ist nicht degoutant lies
das wintermärchen doch einfach mal da wirst du vieles von...
by wilhelm peter (10.01.15, 22:30)
den heine zu bringen,
bei diesem text. da muss ich mich räuspern. entschuldigung.
by don papp (10.01.15, 21:18)

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