Freitag, 4. März 2011
after work

Ich kenne Florian sehr gut; manchmal scheint er mir geradezu näher als ich selbst mir bin. Dennoch muss ich gleich vorausschicken: wir sind einander niemals begegnet, sodass die Verwunderung darüber durchaus berechtigt ist, wie ich um seine Geschichte wissen kann.
Nun, dies wird sich im Verlauf ebenjener Geschichte von selbst aufklären, ich darf also dem Erzählen den Weg zu dieser Erkenntnis überlassen. Ich tue dies mit dem größten Vergnügen, denn ich kenne keine vergnüglichere Erkenntnis denn die im Erzählen aufkeimende und möchte dies niemandem vorenthalten, der sich mir zuneigen mag.
Wir sind einander nie begegnet, hatten also auch niemals die Gelegenheit, einander zum Freund zu werden. Wir haben auch nie ein Wort miteinander gewechselt.
Jemand hat das Leben einmal einen langsamen breiten Fluss genannt. Tatsächlich erzähle ich die Geschichte von Florians Leben, denn sie wird Florian bis zu dessen Tod begleiten. Sein Tod hat mich selbst überrascht, zumal damit eigenartig genug das Erzählen keineswegs aufhörte. Trauer über Florians Tod wäre also unangemessen und findet deshalb angemessenerweise nicht statt. Vielleicht wäre »Tod« ohnedies das falsche Wort, um Florians Ende zu benennen; weshalb ich dem Benennen gleich zu Beginn ein Ende bereiten will, denn es führt zu nichts außer einer Anhäufung von Vokabeln, deren Bedeutung ohne eigenes Erleben ausbleibt. Möchte also auch hier das Erzählen leisten, was dem Wörterbuch notwendig misslingt.
Der Fluss. Er trennte und verband uns. Wir sind stets auf Sichtweite an seinen beiden Ufern entlanggegangen, konnten einander zusehen, manch-mal auch zuwinken. Doch ist er immer drüben geblieben, ich hingegen immer
hier: dort, wo ich noch immer stehe.
Der Fluss hat sich verändert. Er erschien mir wirklich langsam, breit, schier unbewegt in Florians Begleitung. Schien eher einem Kanal gleich denn einem Fluss: von irgendjemandem gewollt und gemacht, von eigenartiger Vorhersehbarkeit und dennoch fremd bis zum Grund. Fremd sich selbst und fremd auch mir. »Fluss« kannte ich nur von Mark Twains Mississippi, nicht jedoch aus eigener Anschauung. Florians »Tod« hat diesen Mississippi aus den Ufern jenes Kanals überquellen lassen. Fremd noch immer, aber lebendig, eigensinnig, um jede Kurve herum neu
und anders. Gefährlich und aufregend. Jetzt erscheint mir jene Wasserfläche eher wie ein Ozean, an dessen Strand ich entlanggehe – »spazieren« wäre mit zuviel Gleichgültigkeit den Schritten gegenüber verbunden und deshalb das falsche Wort, auch wenn ich viel von Florians
Gangart übernommen habe. Das andere Ufer ist
verschwunden, und ich schaue nur noch selten dorthin, wo es einmal gewesen ist. Ich liebe es noch immer, auf das Wasser hinauszuschauen, denn ich verehre den Raum und lasse mich gern von der Weite bezaubern.
»Tod« wird stets mit Verlust verbunden. Florians »Tod« bedeutete durchaus einen Verlust: das andere Ufer ist verschwunden.
Ist es ein Verlust, wenn Raum und Weite ihre Grenze verlieren?

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last updated: 23.02.20, 04:41
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das ist das Leben. Es
besteht aus einer Ansammlung von Verlusten, mit denen man...
by ratte (28.03.18, 06:25)
Das ist ganz schön
deprimierend.
by sakana (22.03.18, 17:05)
Interessant. Nun sitz ich da
mit meinem frisch und ungewaschenen Hals, und wundere mich über...
by ratte (22.03.18, 07:28)
denken ist nicht degoutant lies
das wintermärchen doch einfach mal da wirst du vieles von...
by wilhelm peter (10.01.15, 22:30)
den heine zu bringen,
bei diesem text. da muss ich mich räuspern. entschuldigung.
by don papp (10.01.15, 21:18)

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