Sonntag, 14. Februar 2010
Seneca, Schätzle.

Im Brief an einen Kollegen (um genau zu sein: der 90ste) spricht der antike Denk-Held Seneca über die Bedeutung der Weisheit in der Menschheitsgeschichte (mein Fazit: der war depressiv) und die Bedeutung der Kunst bzw. des Kunsthandwerks für die Weisheit. Muss man transkripieren, denn dass was die Alten einen völlig anderen Begriff von Kunst hatten als wir Dödel heute, lässt sich in diesem Text schön herauslesen.
Für Seneca ist die Weisheit der Inbegriff der Vernunftkontrolle, sie ist es, die reguliert und entscheidet, wie zu organisieren ist, und nebenbei singt er das Hohelied auf die steinzeitlichen Kulturen, die Habsucht und Besitz nicht kannten, woraus er folgert: die Kunst ist das Ergebnis der Habsucht von Tyrannen.
In seinem Menschenbild gehört der Mensch in die Steinzeit zurückversetzt, Technische Innovation ist in seinen Augen eine Aneinanderreihung von Zufällen, und nichts kritisiert er mehr als den Abschied vom freien, naturgebundenen Menschen, der nicht mehr einfach nur ist ("die unberührte Natur in ihrer Fruchtbarkeit gibt dem Menschen alles was er braucht"), sondern nach Besitz streben MUSS, damit er überlebt. Das Hohelied an die Freiheit ist eine Kampfschrift gegen den Besitz Einzelner. Und mir dünkt, Marx habe diesen Gedanken in sich aufgesogen wie ein trockener Schwamm, nicht ganz zu Unrecht wie ich meine, aber unter den falschen Vorraussetzungen.
Es ist eine typisch deutsche Eigenheit, Kulturkritik immer im Sinne von Organisations-Pragmatik zu betrachten, und seine Schlüsse so in einen politisch-wirtschaftlichen Kontext zu stellen. Und damit ein Szenario zu basteln, das in Utopien endet. Dabei geht es einzig und allein um das Herumstochern im Verstehenwollen, wie Beziehungen sich bauen, warum sie Sinn machen, und wie sie am sinnvollsten zu nutzen sind (Levi-Strauss: nicht die Fortpflanzung ist ausschlaggebend, sondern das Knüpfen von Beziehungen im Hier und Jetzt mit den Mitteln, die jetzt von Belang sind -- so in etwa).
Man muss dem guten Seneca zugutehalten, dass er einer Kultur entstammt, die noch keine Ahnung hatte von der Entstehung der Schrift (Bildmalerei -- Handels(!)-Glyphen -- Lautschrift), und in der die Frau (hüstel) nicht wirklich menschliche Relevanz besaß (er spricht speziell nur von Männern, die weise sind), und ihm daher die andere Hälfte der Weisheit selbst fehlte (oder das gackernde Hinterfragen aus einer ganz anderen Perspektive).
Aber die Kunst an sich als eine willkürliche Zufälligkeit zu bezeichnen, ist schlicht idiotisch, wenn nicht gar unverschämt, vergisst man, dass wir heute einen ganz anderen Kunstbegriff haben. Es gibt sowas wie ein Bedürfnis nach Harmonie, nach Unterhaltung und nach dem Sich-Auseinandersetzen mit dem Sicht- Hör- und Schmeckbaren, weil es INSPIRIERT. Und soll der gute Seneca bitte behaupten, Weisheit sei möglich ohne die Inspiration der Idee, ohne den Austausch von allem möglichen, und wenns "nur" dem Zuhören eines Liedes ist (die Kommunikation findet dann im Ich statt).
Die Überhöhung des "schönen, glücklichen, Wilden" halte ich ganz persönlich für eine überzogene Romantisierung, aus der die eigene Frustration des "ungeliebten Denkers" spricht (und damit kenn ich mich aus, gell). Ich bin sehr glücklich, dass es Röntgenapparate gibt, Straßenbahnen, den Buchdruck oder das Radio, und all das gäbs nicht, wenn nicht irgendwer damit auf die Idee gekommen wäre seiner "Habsucht" damit Ausdruck zu verleihen. Es braucht immer einen, der eine Innovation auch irgendwie unter die Leute bringt ("Dancing for my own appointment? That ain´t it, Kid, that ain´t it Kid!" (A Chorus-Line)), und wenn man es zur Not selbst macht.
"Der glückliche Wilde" ist in seiner Kulturepoche bis heute auffällig, gerade eben WEIL er neben Jäger und Sammler ein Künstler ist. Er bemalt Steinwände, seinen Körper, und alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Und er macht Musik und erzählt Geschichten. Seine Riten müssen äußerst eindrucksvolles Theater gewesen sein. Sein "Glück" liegt nicht in seiner Einfachheit und Besitzlosigkeit (das kümmert ihn garnicht), sondern im Fehlen der NUTZUNG von Kunst und Weisheit zur Stützung irgendwelcher Machtansprüche durch den notwendigen Zwang der Demonstration im Konkurrenzkampf. Die daraus resultierende Freiheit hat glaub ich wenig mit Besitzlosigkeit zu tun, sie ist nur ein Nebeneffekt. Dass DAS ein Problem darstellt, wissen grad die Künstler und Denker zur Genüge -- und es ist Grund genug es trotzdem zu tun, denn wo kämen wir hin, wenn die Sturheit des "ich machs trotzdem, und nicht nur für mich, sondern für alle zugänglich" dem Gedanken des Erfolgszwanges für immer weichen würde? Richtig, in die Depression. Denn Denken und Erschaffen ist eine Eigenheit von uns Menschen, die, wenn sie zu sehr beschnitten werden, im psychosomatischen Selbstmord oder in manchmal groteskem Masochismus enden (oder der Ironie).
Die "Armut und Selbstzerstörung der Künstler", die ich gern ironisch auf die Schippe nehme (hey, Zeichnen ist körperlich extrem anstrengend! Blasen, Tusche-Vergiftung, Bandscheibenvorfall, Sehnscheidentzündung, Kapartunnelsyndrom, Blindheit! :), ist ergo kein Ergebnis von zu wenig kapitalistischer Aktivität auf dem Konto, sondern ein Nebeneffekt des Suchens nach Inspiration und einer Art Konzentration, die manchmal eben auch in die Hose gehen kann (Alkoholismus, Drogen, Irrsinn. Nachdem ich nicht mit 25 an Drogen verstorben bin, mit 40 nicht am Alkohol, bleibt mir noch die Chance mit 50 durch Koffeein und Nikotin um meine Rente drumrumzukommen, und wenn ich das auch nicht schaffe, muss ich mit 70 im Frotteebademantel vor einer Batterie tonloser TV-Geräte vor mich hindümpeln und verschlampen, weil meine Frau mich wegen einem jungen, armen Schlucker verlassen hat, denn lebe ich so lange, werde ich dank der Schadensersatzzahlungen der Tabakindustrie endlich reich sein). Gescheiterte Existenzen gibts überall, dazu muss man kein Künstler oder Weiser sein. Dem Nicht-Künstler oder Nicht-Weisen fehlts vielleicht an jeglichem Talent, dem Künstler oder Weisen eher am Realitätsbezug, der bedeutet: ohne erkennbaren Nutzen für annere (Genuss, Erkenntnis, Inspiration, was weiss ich) kein echter Nutzen für einen selbst und auch nicht auf dem Konto. Klappt natürlich nicht immer, und wenn nicht, können wir den "schönen Wilden" nachheulen und die Armut zum Maß der Dinge erheben, um uns zu trösten, genauso wie wir Besitz und Reichtum zum Maß aller Dinge erheben können, wenn wir einen Minderwertigkeitskomplex haben. Idiotisches Symptom, aber nicht selten, weil es tatsächlich tröstlich sein kann (aber selten wirklich ist).
Aber vielleicht lieg ich ja auch völlig falsch und die Welt ist in Wirklichkeit nur ein blödes Holodeck-Programm namens "Schubladen-Basteln", das Gott vergessen hat abzuschalten, bevor er aufs Klo musste. Wat weiss denn ich.

Also, werter Herr Seneca, ich besorg schon mal den Wein, und dann müssen wir mal ein Huhn zum Thema "was bedeutet Weisheit und Kunst gleichermaßen für menschliche Beziehungen?" rupfen. Soooo einfach gehts ja wohl net.

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by wilhelm peter (10.01.15, 22:30)
den heine zu bringen,
bei diesem text. da muss ich mich räuspern. entschuldigung.
by don papp (10.01.15, 21:18)

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